Nähe und Distanz - ein Thema im Miteinander

Ende Mai 2020. Die Einschränkungen im öffentlichen Leben werden weniger.

Das ständige Ausloten physischer Nähe und Distanz im öffentlichen Miteinander hat unser Verhalten verändert. Wahrscheinlich geht es vielen so wie mir: Man checkt schnell ab, ob man einen Schritt zur Seite oder zurück geht. Man macht Bögen um andere. Man hält an und wartet. Anders als früher, als es darum ging, niemanden anzurempeln, niemand Fremdes körperlich zu berühren. Heute geht es um Abstandsregeln und diesen einen Meter fünfzig.

Für physische Nähe und Distanz sind ja immer alle an der Situation beteiligte Personen gleichzeitig zuständig. Nähe und Distanz so herzustellen, dass alle zufrieden sind, braucht Sensibilität und die Bereitschaft, seinen Teil dazu beizutragen. Aber offensichtlich gibt es Personen, die davon ausgehen, dass es immer die anderen sind, die für die richtige Nähe beziehungsweise die richtige Distanz zuständig sind.

Ich habe in letzter Zeit häufiger gehört, wie sich Leute darüber beschweren, dass ihnen andere zu nahe kommen, dass andere nicht auf genügend Abstand achten, dass andere sich nicht kümmern, dass die Regeln befolgt werden. Wenn ich dann nachfrage, warum sie denn nicht einen Schritt zurückgehen oder zur Seite oder einen Bogen machen, dann erklären sie mir, dass sie sich sehr wohl an die Regeln halten, dass sie ja nicht diejenigen seien, die für die falsche Nähe verantwortlich seien, dass sie es richtig machen und es die anderen sind, die es falsch machen.

Wenn ich dann sage, dass ich meine, dass es immer alle Beteiligten gleichzeitig sind, die für den einen Meter fünfzig Abstand zuständig sind, dann erklären mir die Beschwerer*innen mit aufgeladener Energie, dass sie doch nichts dafür können wenn die anderen sich nicht dran halten. Und meist fahren sie dann mit der Erzählung einer bestimmten Situation fort, in der sie aus ihrer Sicht eindeutig das Opfer und die anderen die Täter sind.

Wer sich aus einem inneren Täter-Opfer-Muster heraus auf die Welt und die anderen bezieht, findet auch und besonders in Corona-Zeiten überall Bestätigungen für sein Muster. Auch die Verschwörungstheorien deuten auf die Bereitschaft vieler hin, sich selbst als Opfer zu fühlen. So kann im inneren Denk- und Fühl-Muster alles beim Alten bleiben: Ich muss nur Mund- und Nasenschutz tragen, damit mich die anderen nicht anstecken und die anderen dürfen mir nicht zu nahe kommen.

Dabei sind wir doch frei und können auch denken: ich trage den Mund- und Nasenschutz, damit ich andere nicht anstecke, falls ich infiziert ein sollte ohne es zu merken. Und ich komme anderen nicht zu nahe, damit sie sich sicher fühlen können. Und wenn mir einer, aus welchem Grund auch immer, zu nahe kommt, gehe ich einen Schritt zurück oder zur Seite.

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