Was machst du mit deinem Wissen und Können? Marie (9)

* Marie, 78, Sinzenich im Januar 2022. 


Das ist eine Frage, die sofort bei mir Bedauern und ein wenig Trauer auslöst. Weil ich nicht genug damit mehr machen kann. Also ich habe bisher Seminare und Beratungen gemacht, jetzt mache ich diese ehrenamtlichen Tätigkeiten, organisiere hier eine Tagung und dort und mache die Sache mit den Vorsorgevollmachten. Das schöpft mein Wissen und Können aber nicht aus. Vieles liegt einfach brach und brodelt in mir, und ich bin manchmal traurig darüber, dass nicht jüngere Menschen, zum Beispiel aus meiner Familie, wie mein Neffe, irgendwie wild darauf sind, von meinem Wissen und Können und meinen Erfahrungen zu profitieren. Ist aber nicht so. Das liegt brach. Und wird zum großen Teil auch brach liegen bleiben, denn nicht alles, was ich weiß und kann, kann ich so über die Zeit retten. Was ich ganz gut kann, zum Beispiel Tagungen vorbereiten und Abläufe organisieren, das versuche ich noch weiter zu machen, aber es ist weniger.


Könntest du mal in Stichworten beschreiben, worin dein Wissen und Können besteht?

Das ist ganz schwierig, wenn ich das jetzt sagen soll. Es sind natürlich auch viele Erfahrungen, die ich über das Reisen gemacht habe, mit Menschen zu kommunizieren und sich selbst zu organisieren. Meine ganze existentialistische Existenz mich selbst ohne Hilfe von zuhause oder sonstwie zu organisieren und auf die Welt zuzugehen und mit der Welt umzugehen. Das ist so das Allgemeine. Dann habe ich natürlich ein gewisses Wissen und Können noch von meiner juristischen Ausbildung her, was ich in viele Dinge mit einfließen lassen kann. In Aufgaben von Organisationen, Dinge in die Welt zu bringen, das sind auch Sachen aus meiner 30 Jahre langen Unternehmensberatungsphase, die sich da eigentlich gut machen. Dann habe ich über viele Dinge nachgedacht, wie zum Beispiel über Sterben und Sterbebegleitung. Da bin ich gerade dabei, mit anderen zusammen, dass wir versuchen, das für uns gegenseitig zu nutzen.

Außerdem kann ich unheimlich viele Gedichte auswendig. Das ist ja auch ein Wissen und Können. Wobei ich mir immer wieder Gelegenheit verschaffe, das auch unter die Menschheit zu bringen. Würde ich allerdings gerne noch öfter tun.


Darf ich dir hier jetzt in diesem Moment die Gelegenheit dazu geben?

Ja.


Ohne Wort, ohne Wort

rinnt das Wasser immerfort!

Andernfalls, andernfalls

spräch es doch nichts andres als:

Bier und Brot, Lieb und Treu -

und das wäre auch nicht neu.

Dieses zeigt, dieses zeigt,

dass das Wasser besser schweigt.


Von wem ist das Gedicht?

Von Morgenstern. 

Ich habe vor einiger Zeit ein japanisches Gedicht auswendig gelernt, das heißt Goldfisch im Winter, und weil es mir so gut gefiel, habe ich daraus im Literaturclub einen ganzen Abend über japanische Lyrik gemacht. Ich lebe dann da sehr drin, wenn ich mich mit Gedichten beschäftige und suche dann die Gelegenheit, es anderen vorzutragen. Auch weil ich weiß, dass es vielen Freude macht. 

Was habe ich sonst noch an Wissen und Können? Ein bisschen was weiß ich über Garten und über Blumen und über Sterne, das sind so Sachen, die ich mein Leben lang gehegt und gepflegt habe, die kann ich immer mal anbringen. Ich habe es einfach immer getan, anderen zu erzählen, wie Sterne heißen. 

Ich war ja auch mal eine sehr gute Vortragsrednerin. Das liegt nun völlig brach. Die Themen aus der feministischen Welt, zu denen ich Vorträge gehalten habe, sind jetzt nicht mehr gefragt und die neuen Themen interessieren mich nicht. Insofern ist diese Kunst, einen sagen wir mal  45 minütigen Vortrag zu gestalten, so dass er anderen Freude macht, die liegt einfach brach.


Eine Frage noch. Hast du Träume für die Zukunft?

Nein. Das habe ich nicht. Schade eigentlich, habe ich aber nicht. 


Ich habe noch einen Wunsch. Würdest du dieses japanische Gedicht vielleicht noch vortragen?

Es heißt Goldfisch im Winter.


Ein Goldfisch, der die Sommerhitze überlebte, gibt sich unter seinem Wasser seinem Denken hin und findet auch nachts keinen Schlaf.

Bis zu deinem Todestage musst du weiterleben, musst allein dein Dasein fristen.

Ob du auch dann noch die Buddharegeln für einsam Lebende befolgst?

Schwimmt der Goldfisch eines Tages unters Entengrün und kehrt seinen weißen Bauch nach oben zum ewigen Schlaf.

Träumt er vielleicht von Schnee, der kalt auf Silbergipfeln funkelt, den er zuletzt nicht mehr erblicken konnte?

Glitzernd lässt er den Gewandsaum flattern - flattern.

Goldfisch im Winter - Schmerz des Lebens. 


Danke. Hast du noch ein Gedicht?

Ja. Von Tomioka Taeko.


Lange Zeit. 

Denk nicht mehr daran was war in jener langen Zeit. 

Du zündetest mir ein Streichholz an.

Denk auch nicht mehr daran, dass sich in dieser Zwischenzeit deine und meine Augen trafen. 

Weder an jenen Anfang, bevor deine Zigarette ausging, noch an jene Zwischenzeit als deine und meine Augen haften blieben.

Auch an jenes Ende, denk nicht mehr.

Du drücktest deine Zigarette aus und ich pustete schnell das Streichholz aus. 

Denk nicht mehr daran, was in jenem langen Zeitraum geschah.

Weil du du warst, ließt du deine Zigarette ausbrennen. 

Weil ich ich war, ließ ich das Streichholz ausglühen. 

Und daher wird es wohl nichts mehr geben, an das wir zurückdenken. 




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