Der richtige Zeitpunkt für eine Pressemitteilung

Wachsen und Entwickeln sind Prozesse, die ihre Zeit brauchen. Eine Wohnprojektgruppe muss wachsen und sich entwickeln. Oft aber fehlt den Beteiligten, also den Gruppenmitgliedern, das Empfinden dafür, dass sie ein soziales Gebilde, ein lebendiger sozialer Organismus sind, der wächst und sich entwickelt und verschiedene Phasen durchläuft. 

Das trifft auf alle selbstorganisierten Gruppen zu, egal, ob sie ein Wohnprojekt planen oder sich für ein anderes Thema engagieren. Wenn Menschen zusammenkommen, weil sie ein gemeinsames Anliegen haben und sich als Gruppe für dieses Anliegen freiwillig engagieren, organisieren sie sich selbst und werden damit automatisch zu einem sozialen Organismus. 

Der Begriff klingt vielleicht fremd, weil wir "Organismus" eher als biologischen Begriff kennen. Aber es ist durchaus hilfreich, sich eine selbstorganisierte Gruppe als Organismus vorzustellen, in dem alles lebendig ineinander wirkt und alles mit allem verbunden ist. Dieses Bild hilft vor allem den Mitgliedern einer Gruppe und unterstützt sie bei ihrem Verhalten und ihrer Kommunikation. Denn wenn ich als Gruppenmitglied davon ausgehe, dass die Art, wie ich mich verhalte und wie ich kommuniziere jederzeit und überall Wirkung auf alle anderen hat und die Gruppe mitformt, dann macht es Sinn, mich darum zu kümmern liebevoll und wohlwollend zu sein, aufrichtig und offen, ehrlich und mutig. Und wenn ich mich verletzt fühle oder sonst etwas mich stört, dann macht es Sinn, diese Störung oder Verletzung nicht einfach auszuhalten oder mich hintenrum darüber zu beschweren, sondern es in die Gruppe zu bringen und offen zu besprechen. Denn nur so kann der soziale Organismus gesund bleiben. 

Das aber, also ein offenes Verhalten anderen gegenüber, was unsere Verletzungen und Kränkungen und Störungen angeht, haben wir alle nicht gelernt. Wir haben gelernt auszuhalten, die Zähne zusammenzubeißen und hintenrum mit anderen über diejenigen zu sprechen, die wir für unsere Verletzungen verantwortlich machen. So gehen wir alle durchs Leben, oder die allermeisten von uns. Und das ist für die Gesundheit einer selbstorganisierten Gruppe nicht gut. 

Es geht um Strategien, die wir haben, um mit emotionalen und mentalen Verletzungen und Kränkungen umzugehen: Aushalten, rationalisieren und mit Sachlichkeit kaschieren, hintenrum über diejenigen reden, die wir dafür verantwortlich machen. Die wenigsten von uns haben gelernt, eine gefühlsmäßige  Verletzung offen anzusprechen und sie so zu besprechen, dass nicht weitere Verletzungen die Folge sind.

Aushalten bringt gar nichts, denn die Verletzung geht nicht weg, wenn wir sie aushalten. Und es ist auch nicht gut, emotionale Verletzungen zu rationalisieren und mit sachlichen Argumenten zu kaschieren. Diese Strategie wird jedoch sehr häufig angewandt und dabei wird vergessen, dass jede Kommunikation eine Sachebene, also eine Inhaltsebene und eine Beziehungsebene hat und dass die Beziehungsebene die Sacheben dominiert. Immer. Und ignorieren geht auch nicht, denn wir können nicht nicht-kommunizieren. Das sagt Paul Watzlawik, Kommunikationswissenschaftler, Psychotherapeut und Philosoph.

Aushalten und Emotionales sachlich überspielen sind Verhaltensweisen, die jede und jeder Einzelne für sich entscheidet und deren Konsequenz er oder sie auch zu tragen hat, wobei die Auswirkung auf die Gruppe nicht zu unterschätzen ist, denn wie gesagt: Alles ist mit allem verbunden und hat Auswirkung auf alles, eben weil die Gruppe ein lebendiger Organismus ist. Was jedoch verheerende Wirkung auf die Gruppe hat und ihre Gesundheit stark gefährdet, ist, wenn hintenrum über andere, die nicht anwesend sind, geredet wird. Mit diesem Verhalten wird ein Virus ins System eingeschleust, und was Viren anrichten können, das wissen wir genau, biologisch gesehen. Wenn wir es ins Soziale übertragen, dann können wir sagen, dass Hintenrum über andere reden einzelne Organe, also einzelne Mitglieder, schädigt und dazu führt, dass Offenheit und Ehrlichkeit als wünschenswertes Verhalten infrage gestellt werden. Hintenrum über andere reden ist ein Angriff auf die Atmosphäre des Vertrauens, die für das Gelingen von Gemeinschaft fundamental wichtig ist. Zudem kann Hintenrumreden dazu führen, dass Untergruppen entstehen und gegebenenfalls Spaltungen, die möglicherweise nicht mehr zu kitten sind.

Was hat das alles, was ich bisher geschrieben habe, mit dem richtigen Zeitpunkt einer Pressemitteilung zu tun? Ich will mit dieser Beschreibung beispielhaft zeigen, dass eine Wohnprojektgruppe viel zu tun hat, um sich als Organismus zu formen und eine tragfähige Kultur des Miteinanders zu etablieren, die standhält, wenn Neue nicht nur einzeln dazukommen, sondern mehrere oder auch viele auf einen Schlag. Denn das passiert nach einer Pressemitteilung. 

Wenn die Gruppe eine stabile Kultur des respektvollen Miteinanderumgehens entwickelt hat, wenn sie den Unterschied zwischen einem Problem und einem Konflikt kennt, wenn sie weiß, wie sie Konflikte lösen kann, wenn sie gegen das Virus des Hintenrumredens geimpft ist, dann kann sie allen, die dazukommen, diese Kultur anbieten. Und wer sie nicht annehmen kann oder will, der oder die sollte sich eine andere Gruppe suchen. Und ich rede hier nicht von einem Papier mit einem Text, der aus tollen Sätzen besteht, den alle Neuen unterschreiben müssen. Ich rede von gelebter Wirklichkeit. Von Reden im Kreis. Von aktivem Zuhören. Vom Systemischen Konsensieren als Entscheidungsverfahren. Von Methoden, die alle lernen, um oben beschriebenes tatsächlich umzusetzen. Denn es passiert nicht, wenn wir es nicht wollen. Und wollen allein nützt nichts, wir müssen es auch können. Und wenn wir es nicht können, müssen wir es lernen.



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