Die Demokratie und eine ihrer heiligen Kühe

Eigentlich wollte ich schreiben: Die heilige Kuh der Demokratie. 

Bevor ich jedoch Sätze wie diesen schreibe, google ich immer erst einmal, um zu sehen, ob dieser Satz schon anderswo als Titel verwandt wurde. Ich habe ihn tatsächlich woanders gefunden und zwar für eine ganz andere "heilige Kuh der Demokratie". Also war klar: die Demokratie hat mehrere heilige Kühe. Ich will hier aber nur über eine sprechen, nämlich über das Mehrheitsprinzip

Wir können uns die Demokratie überhaupt nicht ohne Mehrheitsprinzip vorstellen. Wir können Demokratie noch nicht einmal ohne Mehrheitsprinzip denken. Und für viele, vielleicht für die allermeisten, ist es ein und dasselbe: Demokratie und Mehrheitsprinzip. 

Dahinter steckt der Gedanke, dass das, was die meisten wollen, das bessere sei. Dass das, wofür die meisten stimmen, für alle, also auch für die, die anders gestimmt haben, das richtige sei. Es ist der Glaube an den Wert von Quantität. Das Credo ist: Mehr ist besser. 

Höher. Schneller. Weiter. All das ist Mehr. 

Jetzt befinden wir uns in einer Weltlage, in der immer deutlicher wird, dass Mehr nicht mehr länger besser sein kann. Auch nicht Höher, Schneller und Weiter. Diese ganzen Werte von Mehr sind überholt weil sie uns in die Krisen geführt haben. Aber was heißt das denn jetzt? Soll es jetzt um WENIGER gehen?

Weniger gut. Weniger hoch. Weniger schnell. Weniger weit?

Die Frage ist ja, was ist besser als Quantität? Und da werden viele spontan sagen: Qualität. 

Ich würde sagen, dass niemand etwas dagegen hat, dem Bundestag Qualität zu wünschen. Die Frage ist: Wie wird Qualität gemessen? 

Es ist natürlich selbstverständlich, dass wir in unserer Demokratie alle mitbestimmen dürfen, wer in den Bundestag einzieht. Beim Mehrheitsverfahren tun wir das, indem wir unsere Stimme vergeben. Jeder und jede Wahlberechtigte hat eine Stimme, die sie einer Partei gibt und diese Stimmen werden addiert und so ergibt sich, welche Partei die meisten Stimmen hat. Das ist das Mehrheitsprinzip.

Interessant ist natürlich, dass mittlerweile eine Partei die meisten Stimmen hat und damit die Regierung bilden kann mit weniger als 25 Prozent aller abgegebenen Stimmen. Die Basis, auf der diese Partei steht,  ist so klein wie nie zuvor in der Geschichte unserer Demokratie. Das führt zu einer latenten Instabilität und Unsicherheit, die von den Vertretern und Vertreterinnen der Partei permanent kompensiert werden muss. Das macht Stress. 

Ich möchte anregen, ein anderes Prinzip und Wahlverfahren in Erwägung zu ziehen. Das Systemische Konsensieren. Das Verfahren geht so, dass jede und jeder Wahlberechtigte jede einzelne Partei auf der Liste bewertet. Mit Widerstandspunkten auf einer Skala von 0 bis 10. 

0 heißt: ist für mich okay. 10 heißt: geht für mich gar nicht. Die Werte dazwischen werden nach Gefühl vergeben. 

Im Systemischen Konsensieren ist Widerstand alles, was du an Bedenken bezüglich der jeweiligen Partei hast, an Befürchtungen, Ängsten und Argumenten. Alles, was dir emotional und rational dazu einfällt und womit du dich identifizierst ist dein persönlicher Widerstand, und den kannst du im SK-Verfahren ausdrücken. Wie gesagt: mit Punkten zwischen 0 und 10.

Wenn dann alle ihre Punkte vergeben haben, wenn also alle Parteien von allen bewertet wurden, werden die Punkte jeder einzelnen Partei addiert und die Summe zeigt den Gesamtwiderstand dieser Partei an. 

In der Umkehrung lässt sich nun bestimmen, wie hoch die Akzeptanz dieser Partei ist. Und die Partei mit der höchsten Akzeptanz ist die mit dem geringsten Widerstand und damit die, die dem Konsens am nächsten kommt und damit die, die das geringste Konfliktpotential mit sich bringt. Anders ausgedrückt: sie ist die Partei mit der stabilsten Basis.

Einige werden jetzt sagen: Dabei geht es ja auch um Mehrheit. Warum also so kompliziert? Und wenn es sowieso um die positive Mehrheit geht, warum nicht gleich mit Ja-Punkten bewerten? 

Das Systemische Konsensieren geht davon aus, dass es gut ist, wenn wir das, was unser NEIN ausmacht, ausdrücken dürfen. Wenn wir uns differenziert mit unseren Bedenken und Befürchtungen und Ängsten mitteilen dürfen. Denn dann fühlen wir uns wertgeschätzt und gehört und mitgenommen und als Teil des Ganzen. Widerstand wird im SK-Prinzip willkommen geheißen. Ganz anders als bisher, wo Widerstand irgendwie hingenommen aber nicht wertgeschätzt wird.

Im SK-Prinzip gehen wir davon aus, dass im Widerstand Aspekte liegen, die wir bisher nicht bedacht haben, die wir vernachlässigt haben oder die wir einfach noch nicht auf dem Schirm hatten. Widerstand hat im SK-Prinzip einen hohen Wert, so hoch, dass wir ihn abfragen und ihn zur Grundlage unserer Entscheidungen machen. Dabei suchen wir keine Gewinner, wie das Mehrheitsprinzip, sondern die Lösung oder das Ergebnis, das dem Konsens am nächsten kommt.

Übrigens: Wer Gewinner sucht, produziert automatisch Verlierer und trägt damit zur Spaltung bei. 

Beim SK-Prinzip geht es um eine andere Einstellung, eine andere Haltung, einen anderen Hintergrund. Der Weg, mit dem wir beim Systemischen Konsensieren zu einem Ergebnis kommen, ist ein vollkommen anderer. Dieser Weg führt über das Nein in eine andere Qualität, in mehr Demokratie und in eine gemeinschaftsfördernde Kommunikation. In mehr Miteinander und weniger Konflikte. Raus aus dem Kampf um Stimmen, rein in den Austausch um Bedenken und Vorbehalte. 

In dieser Art der Kommunikation liegen demokratische Schätze, an die das Mehrheitsverfahren nicht rankommt, weil es immer nur um das Sammeln von Ja-Stimmen geht. 

Wenn JA-STIMMEN vergeben werden, wird alles mobilisiert, um möglichst viele davon zu bekommen. Wenn aber WIDERSTANDS-PUNKTE vergeben werden, wird nicht alles dafür getan, um diese zu bekommen, denn Widerstand will niemand haben. 

Beim Systemischen Konsensieren geht es darum, möglichst WENIG Widerstandspunkte zu bekommen, damit am Ende der Akzeptanzwert möglichst hoch ist. Die Herausforderung für die Parteien ist also, wie sie es hinbekommen, dass sie möglichst wenig Punkte erhalten. Damit wäre so etwas wie WAHLKAMPF völlig sinnlos, denn um Widerstandspunkte kämpft man nicht. Man will sie vermeiden.

Wie würden Parteien sich also verhalten, wenn wir mit dem Systemischen Konsensieren den Bundestag wählen würden? Sie müssten dafür sorgen, dass die Bedenken gegen sie möglichst gering sind, dass die Befürchtungen auf sie bezogen möglichst klein sind, dass die Ängste auf sie bezogen sich weitgehend auflösen. 

Also ginge es tatsächlich um WENIGER als um MEHR.

Die Art der Kommunikation, wenn es um weniger geht als um mehr, ist anders. Wenn ich als Politikerin den Widerstand gegen mich minimieren will, dann höre ich zu, dann komme ich denen, die mich bewerten, entgegen, denn ich will sie ja vertreten. Daher ist es wichtig für mich, dass ich weiß, wo die Bedenken und Befürchtungen derer liegen, die mich mit ihrer Bewertung wählen, damit ich sie gut vertreten kann und sie sich wertgeschätzt fühlen können. 

Damit wäre ein Schritt in eine Haltung getan, die wir von unseren Politikern und Politikerinnen erwarten. Dass sie uns zuhören und unsere Meinung wertschätzen und Respekt vor unserem NEIN haben. Mit dem SK-Prinzip hätten wir ein vollkommen anderes politisches Panorama und mehr Demokratie.







Kommentare