Aus dem Projekt - Prozess 14. April 2022.

Immer wieder werde ich unsicher, ob ich weitermachen soll mit den Interviews. Vor allem dann, wenn ich das Feedback bekomme, die Interviews zu lesen sei uninteressant und langweilig. Ich frage mich dann, wieso ich es interessant finde und überhaupt nicht langweilig, wenn ich Menschen über 65 frage, wie sie mit ihrem Wissen und Können umgehen. 

Erstmal finde ich den Prozess interessant, die erste Kontaktaufnahme, die Terminfindung, die Durchführung des Interviews, das Transkribieren der Audiodatei, die Korrektur seitens der Interviewpartner:innen und schließlich das Posten des fertigen Textes. Dieser Prozess ist mir seit vielen Jahren vertraut, seit 2007 interviewe ich Menschen zu ganz unterschiedlichen Themen. Immer im Selbstauftrag. Immer um die Texte auf einer eigenen Webseite, die zum Thema passt, zu veröffentlichen. Ein Mal ist ein Buch daraus geworden. Ab ins Wohnprojekt! Als ich mit den Interviews zum Thema Wohnprojekte anfing, war es vollkommen unklar, ob die Idee, ein Buch daraus zu machen klappen würde.

Üblicherweise kennen wir Interviews als Format, das genutzt wird, um Expert:innen in irgendeinem Gebiet zu befragen. Oder um Menschen zu befragen, die bekannt oder berühmt sind. Einfach so Menschen zu befragen, die weder als Experte:innen bekannt noch irgendwie berühmt sind oder sonst in der Öffentlichkeit stehen, ist ungewöhnlich. Außer in der Forschung. Da werden oft Daten gesammelt, die durch Befragungen Unbekannter zustande kommen, um aufgestellte Hypothesen zu bestätigen oder zu widerlegen.

Dieses Projekt hier in diesem Blog ist aber weder ein Forschungsprojekt noch sind die Menschen, die ich befrage, berühmt noch sind sie Expert:innen, die mit ihrem Thema in der Öffentlichkeit stehen. Worum also geht es hier? 

Zunächst mal ist aus meiner Sicht jeder Mensch Experte oder Expertin in ihrem eigenen Leben. Niemand kennt sich besser aus mit sich selbst als man selbst. Dieser Gedanke ist der Hintergrund meines Engagements, wenn ich Menschen befrage, die üblicherweise nicht befragt werden, um ihre Antworten zu veröffentlichen. Zudem bin ich davon überzeugt, dass das Private politisch ist. Mit meinen Interviews will ich Privates und Persönliches öffentlich machen, damit es von denen, die es lesen wollen, gelesen werden kann. Nur wenn etwas offen dargestellt wird, kann es auch offen  besprochen werden. 

Mein Anliegen ist, die Lebensphase nach der Berufstätigkeit darzustellen. Sie ist besonders und verdient mehr Aufmerksamkeit. Denn es ist die Lebensphase mit der größten Freiheit. Nach der Berufstätigkeit müssen wir nicht mehr tun, was uns aufgrund unseres Arbeitsplatzes vorgeschrieben wird. Die Kinder sind aus dem Haus und damit fallen einige Verpflichtungen weg. Wir sind zwar alt, aber wir sind so frei wie nie zuvor. Diese Phase kann lange dauern. Danach kommt, wenn man nicht vorher stirbt, für die meisten wieder eine Phase, in der die Freiheit wieder abnimmt. Denn wenn wir in hohem Alter immer weniger können, weil immer mehr nicht mehr so geht wie vorher, sind wir auf andere angewiesen und damit werden wir wieder weniger frei.

Aber solange wir frei von beruflichen Zwängen und mit Wissen und Können ausgestattet durchs Leben gehen, stellt sich die Frage: Wie gehe ich mit meinem Wissen und Können um?  Gebe ich ihm Bedeutung oder warte ich darauf, dass andere ihm Bedeutung geben? Meine Vermutung ist, dass viele warten, dass von außen etwas auf sie zukommt, was sie herausfordert. Freiheit bedeutet aber u.a. auch, dass man auf die innere Stimme hört und eigene Impulse wahrnimmt, um das zu tun, was aus innerer Motivation heraus angetrieben wird. Das ist ein Prozess, für den u.a. die Fragen wichtig sind: Was hat überhaupt Bedeutung in meiner jetzigen Lebensphase? Ist es überhaupt das Wissen und Können? Oder ist es etwas anderes? 

Vielleicht sollte ich die Eingangsfrage für die Interviews nochmal ändern. Vielleicht sollte ich fragen: Was hat für dich und deine Entscheidungen in der jetzigen Lebensphase die höchste Bedeutung ?

Ob dann diejenigen, die mir sagen, die Interviews zu lesen sei langweilig, ihre Meinung ändern, weiß ich natürlich nicht. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, Aufmerksamkeit auf eine Lebensphase zu lenken, die wenig oder kaum beschrieben ist und die lange dauern kann, die Phase zwischen dem Ende der Berufstätigkeit und dem Anfang altersbedingter Einschränkungen, die Betreuung erfordern. Diese erste Lebensphase Alter ist voll von Kompetenz, Potenz, Wissen, Können und Möglichkeiten. Mich interessiert ob und wie die Freiheit in Kombination mit den persönlichen Fähigkeiten zur Lebensgestaltung im Alter genutzt werden. 




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