Ein Konzept ist das eine, die Wirklichkeit das andere

Ein Konzept zu haben und es aufzuschreiben und zu versenden und zu bloggen ist das eine. Das andere ist, was in Wirklichkeit stattfindet. Im letzten Blogeintrag von 2022 habe ich das Konzept zu dem Projekt Lesekreis anders: gepostet. Im ersten Blogeintrag 2023 werde ich die Wirklichkeit beschreiben.

In den letzten Monaten hat sich die Gruppe Lesekreis anders: zu einer Lesekreis-Gruppe entwickelt, die kein oder sehr geringes Interesse hat, eine Projektgruppe zu sein und dem von mir entwickelten Konzept zu folgen. Das wurde deutlich, als die Gruppe nach unserem Lesekreis Ende November keine Feedbackrunde machen wollte. Es zeigte sich, dass die Gruppe zufrieden damit ist, wenn ein Text zusammen gelesen und dann besprochen wird. Alles weitere, nämlich gemeinsam zu reflektieren, wie es gelaufen ist, was gut war und was weniger gut war, was man anders machen könnte, also die methodische Ebene und die Metaebene, wurde nicht gewünscht. Für mich war das ein Schock. Mit so viel Widerstand gegen mein Anliegen, Lesekreis anders: zu einem Projekt zu entwickeln, das über den bloßen Lesekreis hinausgeht, hatte ich nicht gerechnet. Was war schiefgelaufen?

Natürlich habe ich die Fehler bei mir gesucht. Ich war nachlässig gewesen, was die Organisationsentwicklung des Projekts angeht. Nicht dass ich sie aus den Augen verloren hätte, aber ich hatte aufs falsche Pferd gesetzt. Ich hatte eine Erwartung gehabt, die sich nicht erfüllt hat. Und ich muss eingestehen, dass ich meine Erwartung nicht deutlich ausgedrückt hatte. Ja, ich hatte das Konzept aufgeschrieben und versendet, aber ich hatte nicht überprüft, ob diejenigen, die in die Gruppe kamen, das Konzept gelesen hatten und damit einverstanden waren und sich für die Umsetzung einsetzen wollen. So kam es dazu, dass ich plötzlich erkennen musste, dass ich in einer Gruppe bin, die gemeinsam Texte und Gedichte lesen will, diese besprechen will und mehr nicht. 

Ich habe dann für das letzte Treffen im Dezember eine soziometrische Aufstellung vorbereitet mit entsprechenden Aussagen zwischen denen sich jede einzelne Teilnehmerin positionieren konnte. Eins wurde klar: ich bin die einzige, für die der Aspekt Umsetzung des Projekt-Konzepts sehr wichtig ist. 

Ich war enttäuscht. Aber ich konnte auch erkennen, dass die Gruppe wirklich gut darin geworden ist, sich abzuwechseln damit, Texte auszuwählen, die als Gesprächsanlass funktionieren und Gedichte mitzubringen, die inspirieren. Da wir aber keine Metaebene entwickelt haben für ein Gespräch ÜBER das, was wir gemeinsam erlebt haben, weil mein Angebot für die Feedbackrunden nicht genutzt wurde, haben wir keinen Austausch darüber, wie sich jemand in der Leitungs-Rolle gefühlt hat und wie die anderen sie erlebt haben. Das bringt mit sich, dass die Rolle der Lesebegleiterin unreflektiert bleibt und daher unbewusst und daher dem Zufall überlassen wird und den jeweiligen persönlichen Möglichkeiten. 

In meiner Idee für das Projekt war ein Gedanke sehr wichtig, nämlich Raum für die Erfahrung von Selbstwirksamkeit zu schaffen. Das ist ein EFI-Gedanke und bedeutet, Menschen die Möglichkeit zu geben, sich selbst erleben und entfalten zu können in etwas, was neu für sie ist, was sie interessiert, wo sie Erfahrungen machen können, die sie vielleicht sonst nicht machen können und sich so selbstwirksam fühlen können. Hinter der Projektidee steckt der Gedanke, dass die Rolle der Lesebegleiterin für alle möglich sein soll. Für mich ist das radikale Partizipation. Und ich muss sagen, das hat geklappt, denn alle, die mitmachen, auch die Gäste, die dazugekommen sind, haben Lust auf die Rolle, bringen Texte mit und lesen sie laut vor und führen durch das Gespräch.

Mein Irrtum war, davon auszugehen, dass wir bei den Feedbackrunden dazu kommen, das Erlebte zu reflektieren und auf diese Weise eine Ebene finden, auf der wir über Methodisches sprechen, über Kommunikation in Gruppen, über Haltung und Leitung von Gesprächen, also über das WIE. Die Wirklichkeit zeigt, dass das WAS, also der Text, für die Gruppe wichtiger zu sein scheint als das WIE. An dieser Stelle unterscheiden wir uns sehr, die Gruppe und ich, wobei einige Teilnehmerinnen meinem WIE-Ansatz gegenüber durchaus Interesse entgegenbringen, jedenfalls mehr als andere, die sich jedoch offensichtlich durchsetzen können. 

Jetzt überlege ich, wie es weitergeht und wie wir mit dem, was ist, in die nächste Phase gehen. Sie beginnt am 19. Januar. Ab jetzt können Menschen dazukommen, die wir nicht kennen, da das Angebot Lesekreis anders: im Programm der Akademie steht und für jeden und jede offen ist. Ich werde darüber berichten.




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