"Ich habe gelernt, den Mund zu halten".

Was für ein Satz!

Als meine Freundin ihn letztens beim Telefonieren sagte, hat er eine unmittelbare Resonanz in mir ausgelöst. Ich wusste sofort, was sie meinte. Meine Freundin wird im August achtzig. Sie hat vier Kinder, die sie überwiegend alleine großgezogen hat. Die verschiedenen Väter dieser Kinder spielten immer nur Nebenrollen. Die Familie meiner Freundin besteht derzeit aus ihren vier Kindern, vier Schwiegerkindern und zwei Enkelkindern. Alle sehen sich mindestens ein Mal die Woche zu einem gemeinsamen Essen im Haus meiner Freundin. Und als meine Freundin mir von diesen Familienzusammenkünften erzählte, sagte sie auch diesen Satz: Ich habe gelernt, den Mund zu halten.

Was genau meinte sie damit? Ich habe nicht nachgefragt, weil ich sofort wusste, was sie damit meinte denn auch ich "halte immer öfter den Mund", wenn ich mit den jüngeren Generationen meiner Familie zusammen bin. Das bedeutet, dass ich einem Impuls, etwas zu sagen, nicht nachgebe, sondern den Satz, der sich in mir formuliert, nicht ausdrücke. Ich verwehre ihm sozusagen den Ausgang, und das bedeutet "den Mund halten".

Das ist ein anderer Vorgang als wenn ich sagen würde, ich schweige. Schweigen heißt auch, etwas nicht sagen. Still sein. Aber irgendwie heißt SCHWEIGEN, nichts sagen WOLLEN. Wenn ich aber "den Mund halte", will ich eigentlich sehr wohl etwas sagen, aber ich tue es nicht, weil ich den Impuls zum Sprechen unterdrücke. Das hat Gründe. Und diese liegen im Außen. Beim Schweigen liegen die Gründe im Innen.

Was aber ist es im Außen, das uns dazu bringt, jetzt im Alter plötzlich nicht das zu sagen, was uns in den Sinn kommt. Die Gründe liegen in den Erfahrungen, die wir in den letzten Jahren beim Älterwerden machen bzw. gemacht haben. Wo genau die Gründe bei meiner Freundin liegen, weiß ich noch nicht, aber das werde ich herausfinden, denn ich habe ihr vorgeschlagen, darüber beim nächsten Telefongespräch zu reden. 

Bei mir liegen die Gründe in der Erfahrung, dass sich in den beiden Generationen meiner Familie, die nach mir kommen, echt niemand mehr für meine Inhalte und das, was ich sage, interessiert. Bei meinen Geschwistern und auch sonst, im Kreis meiner Freundinnen und Freunde und erst recht in professionellen Zusammenhängen hat sich durchs Älterwerden diesbezüglich nichts geändert. Daher muss ich da auch nicht "den Mund halten". Manchmal schweige ich natürlich, das ist klar, aber, wie gesagt, Schweigen ist willentlich nichts sagen. Die Gründe für Schweigen können vielfältig sein, aber hier in diesem Text geht es nicht um die Gründe für Schweigen, sondern um die Gründe für "den Mund halten".

Jedenfalls fühlen sich Schweigen und "den Mund halten" vollkommen unterschiedlich an. Obwohl es von außen betrachtet dasselbe ist. Aber innendrin ist es etwas ganz anderes. Wenn ich "den Mund halte" fühle ich mich blöd und bin frustriert und möchte eigentlich lieber verschwinden. Aber andererseits ist es schön, die Kinder und Enkelkinder zu erleben ihnen zuzuschauen und zuzuhören, also bleibe ich natürlich. Ich denke, meiner Freundin geht es genauso. Sie wird das Zusammensein mit ihren Kindern und Enkelkindern  genießen, auch wenn sie sich in manchen Momenten blöd fühlt, wenn sie wiedermal den "Mund hält". 

Ich freue mich jedenfalls darauf, demnächst mit ihr weiter über diese neue Erfahrung beim Älterwerden zu sprechen.




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