Zum Ende von Lesekreis anders

Folgenden Text habe ich für alle geschrieben, die in irgendeiner Form mit dem Projekt Lesekreis anders zu tun hatten.


Zum Ende von Lesekreis anders, geschrieben aus meiner persönlichen Perspektive der Initiatorin, Konzeptentwicklerin und Begleiterin.


Im Mai 2022 fanden die ersten Treffen statt. Damals gab es den Namen Lesekreis anders noch nicht, sondern nur die Idee dazu. Orientiert an Shared Reading, aber mit der Möglichkeit, dass jede, die will, die Rolle der Lese- und Gesprächs-Begleiterin übernehmen kann, haben wir begonnen, uns ein Mal die Woche zu treffen, um gemeinsam einen Text und/oder ein Gedicht zu lesen und darüber zu sprechen. Im Anschluss haben wir über das Erlebte gesprochen und uns Feedback gegeben. Das Projekt war für vier Phasen konzipiert und endet im Juni 2023.


Ich habe es als EFI-Projekt gedacht. Mir war wichtig, radikal partizipativ vorzugehen, also Teilhabe und Teilnahme in allen Bereichen und für alle Rollen zu gewährleisten. Hintergrund ist zum einen der Leitfaden der EFI-Community "voneinander und miteinander lernen". Eine gute Basis für alle, die sich ausprobieren und dazulernen wollen und bis dato keine Erfahrung mit der Rolle als Lese- und Gesprächs-Begleiterin hatten. Das gilt auch für mich, da mir bis Mai 2022 die Rolle der Lese-Begleiterin unbekannt war.

Zum anderen ist es mir ein großes Anliegen, Leitungs- und Begleitungs-Rollen in dem Bereich, in dem ich tätig bin, für alle, die sich dafür interessieren, zugänglich zu machen, weil dies ermöglicht, Selbstwirksamkeit zu erleben, die ein wesentlicher Aspekt für Potentialentfaltung ist, die wiederum ein Element ist für Persönlichkeitsentwicklung und Lebensgestaltung im Alter und auch für gelingendes freiwilliges Engagement. 


Nach einem Jahr Erfahrung mit dem Projekt Lesekreis anders habe ich u.a. gelernt, dass es wichtig ist, zwischen Partizipation und Kooperation zu unterscheiden, diese Unterscheidung mit allen Beteiligten zu teilen und sich auf gemeinsame Interpretationen und Abmachungen zu einigen. In meiner Analyse bin ich zu dem Schluss gekommen, dass die Lesekreis-Gruppe zwar Partizipation praktiziert hat, sich aber das kooperative Denken und die Idee vom "voneinander und miteinander lernen" im Lauf der Zeit verloren hat und keine Umsetzung mehr stattfand.


Es hat mir Freude gemacht zu sehen, dass alle in der Gruppe Lust hatten und sich getraut haben, die Rolle der Textgeberin und Gesprächs-Begleiterin zu übernehmen. Ich war enttäuscht darüber, dass es irgendwann kein oder nur noch vereinzelt Interesse daran gab, gemeinsam auf eine Metaebene zu gehen, von wo aus das Erlebte betrachtet und besprochen werden kann. Ich musste aushalten, dass ohne die gemeinsame Reflektionsebene einfach das getan wurde, was jede Einzelne meinte, was gut und richtig sei, ohne sich auf gemeinsam entwickelte Aspekte für gut und richtig beziehen zu können. 


Meine Projektidee, Lesekreis anders könne nicht nur ein anderer Lesekreis, sondern gleichzeitig ein gemeinsames Lernfeld sein, hat sich also nicht verwirklicht. 

Das heißt aber nicht, dass einzelne nicht vielleicht etwas gelernt haben. Das kann ich jedoch nicht wissen, sondern nur vermuten, da es keinen Raum gab, in dem wir die persönlichen Lernschritte hätten miteinander teilen können. Eine weitere Vermutung ist, und für mich kann ich es bestätigen, dass der Austausch über das, was in der Gruppe wahrgenommen und erlebt wurde, außerhalb der Gruppensituation stattgefunden hat. 


Dieses Kommunikationsmuster, in einer Gruppe etwas zu erleben und woanders darüber zu sprechen, ist üblich, wenn es in der Gruppe selbst keine Feedbackkultur und keine Möglichkeit für offenen Austausch über das Erlebte gibt. Ich hatte bisher immer gedacht, dass, sobald dieser Raum für offenen Austausch über das Erlebte angeboten wird, er auch wahrgenommen wird. Es hat mich wirklich überrascht, dass die Besprechungs-Möglichkeit im Lauf der Zeit nicht mehr angenommen wurde. Die Gründe dafür herauszufinden wäre ein interessantes Thema für diese Besprechungsebene.


Anmerkungen zum Schluss: 

Üblicherweise muss man, um Leitungs-Rollen in öffentlichen Bereichen einnehmen zu können, eine Ausbildung machen, die oft mit einem Zertifikat bestätigt wird. So ist es auch bei Shared Reading geregelt. Die Rolle der Lese- und Gesprächs-Begleiterin ist bei Shared Reading nicht offen für alle, die zum Lesekreis kommen. Die Idee von Lesekreis anders unterscheidet sich in diesem Aspekt grundlegend von Shared Reading. Die Frage ist: Welche Begleitung und Lernmöglichkeit steht denjenigen zur Verfügung, die die Rolle der Lese- und Gesprächs-Begleiterin übernehmen wollen und wie lernen sie, wenn es keine Feedbackrunden gibt, kein gemeinsames Reflektieren und keinen Raum für ehrlichen und offenen Austausch?


Zum jetzigen Zeitpunkt meiner Erkenntnisse würde ich sagen, dass der Ansatz, radikal partizipativ vorzugehen bei der Verwirklichung der Idee von Lesekreis anders nur dann gelingen kann, wenn gleichzeitig kooperativ miteinander umgegangen und die Idee des gemeinsamen Reflektierens und Lernens von allen geteilt wird und die Bereitschaft zur Umsetzung vorhanden ist. Ist dies nicht der Fall, öffnet radikale Partizipation jedem und jeder Einzelnen die Möglichkeit, ihre ganz eigene Agenda zu verfolgen und durch die legitimierte Ausübung der Leitungs-Rolle die Gruppe zum Objekt ihrer persönlichen Ideen und Absichten zu machen.


Ich möchte allen, die dabei waren und mitgemacht haben, herzlich danken. Ohne Marlene Brandt und Eva Eßer und ihrem Engagement am Anfang des Projekts im Frühjahr 2022 wäre die Umsetzung meiner Idee nicht in Gang gekommen. Danke auch an die Melanchthon-Akademie für die Unterstützung mit Räumen und für das Kopieren der Texte.


Lisa Frohn, im Mai 2023


Hier geht es zum Post, in dem ich über den Anfang von Lesekreis anders berichtet habe.




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